ÄTHER, DU BERAUSCHENDER – KOMM UND STREIF MICH.
Drei Künstler:innen. Drei Wege. Drei Atmosphären.
Liebe Kunstfreundinnen, liebe Freunde der Galerie, liebe Gäste, diese Ausstellung ist eine ganz besondere für mich. „Äther, du Berauschender – komm und streif mich“ ist eine Ausstellung, die mir ungewöhnlich nahgeht.
Warum?
Was, bitte schön, hat der Äther – dieses schwer greifbare, halb vergessene Element der Antike – mit Kunst zu tun? Mit Raum? Mit Wahrnehmung? Und noch dringlicher: Was hat das alles mit unserer Gegenwart zu tun? Die Antwort beginnt nicht im Bild, sondern in der Erinnerung.
In der letzten Woche jährte sich ein Ereignis, das mich bis heute erschüttert: Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau. Ich bin in der Nähe aufgewachsen. Mein erster Besuch im KZ – vierte Klasse. Und viele Male danach. Und jedes Mal dieselbe Frage: Wie können Menschen anderen Menschen das antun? Wie kann man jemanden entmenschlichen, entrechten, einsperren? Diese Frage hat mich nie verlassen. Vielleicht bin ich deshalb zur Kunst gekommen – weil sie Freiheit denkt, wo andere Mauern bauen. Weil sie Raum gibt – inneren Raum. Geistigen Raum. Atmosphärischen Raum.
Und genau da kommt der Äther ins Spiel.
Die alten Griechen glaubten, dass es jenseits von Erde, Wasser, Feuer und Luft noch ein weiteres Element gebe – den Äther. Es war das, worin die Sterne schweben, der Stoff des Himmels. Später wurde daraus das Bild für alles Flüchtige, nicht Greifbare: das Leuchten, das Vibrieren, das, was uns streift. Wie die Erinnerung. Wie ein Gedanke. Wie Kunst. Diese Ausstellung fragt: Was ist Raum? Ist er messbar – oder spürbar? Ist er Masse – oder Stimmung? Unsere drei Künstler:innen geben darauf keine Antworten. Aber sie geben Erfahrungen. Jeder auf seine Weise. Und dann stieß ich – in einem dieser historischen Texte, die man an solchen Gedenktagen wieder liest – auf einen seltsamen Zufall. Die US-amerikanische Einheit, die Dachau befreite, hieß: Rainbow Division. Ich musste zweimal lesen. Ausgerechnet Regenbogen. Das Symbol der Verbindung. Der Hoffnung. Der Vielfalt. Der Brücke zwischen Welten. Und nun befreit eine Truppe mit diesem Namen – ohne es zu ahnen – ein Lager, das wie kaum ein anderes für das Gegenteil von Freiheit steht.
Ist das nicht… unglaublich?
Und da war sie plötzlich: die Idee zum Titel. Der Wunsch, genau diese Zwischenräume zu öffnen. Zwischen Grau und Farbe. Zwischen Erinnerung und Gegenwart. Zwischen dem Sichtbaren und dem, was uns nur streift.
„Äther, du Berauschender – komm und streif mich.“
Ein Titel, der für manche zu poetisch war. Für andere zu pathetisch. Aber dann, als ich die Buchstaben des Mythos aus unsere Galerie-Fensterscheibe rubbelte, hörte ich hinter mir eine ältere Dame sagen zm breitesten schwäbisch sagen: „Des isch aber keck.“ – Und ich wusste: Alles richtig gemacht. Jetzt lade ich Sie ein: Streifen Sie mit uns durch diese Räume. Lassen Sie sich berühren. Vielleicht auch berauschen. Von Farbe, Licht, Leere – und von einer Ahnung dessen, was wir Äther nennen.
Beginnen wir mit dem ersten Rausch – dem der Farbe.
Christof Kindlinger ist ein Architekt des Leuchtens. Seine Bilder wirken, als hätten sich Bach und Rothko auf ein synästhetisches Experiment eingelassen. Hier fließt Farbe nicht nur, sie klingt. Sie schichtet sich, überlagert sich, widerspricht sich, versöhnt sich – in einer Fuge aus Fläche, Licht und Form. Kindlingers Malerei ist langsam. Und das meine ich als Kompliment. In einer Welt, die auf Tempo getrimmt ist, ist seine Kunst ein stiller Protest gegen den schnellen Konsum. Er trägt auf, kratzt ab, verwirft, beginnt neu. Jede Farbschicht speichert Zeit – wie geologische Sedimente. Seine Bilder sind keine Dekoration, sie sind Denk-Räume. Oder vielleicht besser: Resonanzkörper. Wenn Sie lange hinschauen – und das sollten Sie tun –, beginnt das Bild zurückzublicken. Seine Farben – vibrierend, offen, leuchtend – sprechen nicht zu den Augen allein, sondern zum Körper. Kindlinger sagt uns nicht, was wir sehen sollen. Er lässt uns sehen, was in uns selbst zum Klingen kommt.
Doreh Schütz hingegen ist eine Archäologin der Oberfläche. Ihre Fotografie flüstert – aber mit Nachdruck. Sie zeigt uns das, was wir täglich übersehen: eine Wand, einen Stuhl, eine Linie auf dem Asphalt. Und doch verwandelt sich unter ihrem Blick alles: Das Banale wird bedeutend. Das Nebensächliche zentral. Die Welt neu. In der Tradition von Bauhaus und Neuer Sachlichkeit reduziert sie nicht, um kühl zu sein, sondern um präzise zu sehen. Ihre Fotografien sind nicht inszeniert – sie sind entdeckt. Gefunden. Herausgelöst. Und genau darin liegt ihre Kraft: Sie sind leise. Aber sie verändern unseren Blick. Denn plötzlich sehen wir etwas, das wir schon tausendmal gesehen haben – zum ersten Mal wirklich. Und merken: Das Unspektakuläre ist oft das Wesentlichste. Ihre Arbeiten sind keine Antworten. Sie sind Fragen. Und: Räume. Offene Räume. Ätherische Räume.
Und dann ist da Gregor Stehle – ein Maler der Reduktion, der aber alles andere als reduziert ist. Zehn Jahre Zen-Kloster. Zehn Jahre Stille. Das merkt man seiner Kunst an. Sie spricht nicht laut. Sie ist. Stehle malt keine Bilder – er bringt Raum zum Sprechen. Ein Strich, eine Fläche, ein leerer Fleck – mehr braucht es nicht, um ein Spannungsfeld zu erzeugen, das sich durch den ganzen Raum zieht. Seine Kunst ist wie ein physikalisches Feld: Unsichtbar – und doch spürbar Die Galerie nennt das attraktorale Kunst. Klingt ein bisschen technisch – ist aber zutiefst poetisch. Denn bei Stehle wird Raum nicht gezeigt. Er entsteht. Durch Beziehung. Zwischen den Dingen. Zwischen Bild und Betrachter. Zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Stehles Bilder sind keine Objekte, sie sind Ereignisse. Oder, wie Heidegger vielleicht sagen würde: Sie räumen Raum. Sie lassen etwas geschehen.
Etwas, das nicht laut ist. Aber bleibt.
Drei Künstler:innen. Drei Wege. Drei Atmosphären. Und doch kreisen alle um denselben Punkt:Was macht Raum mit uns? Und was macht das, was wir nicht sehen, mit dem, was wir zu sehen glauben?
In diesem Sinne: Äther, du Berauschender – komm und streif uns alle.
Carsten lehmann
Curator